Im Nachtdienst; manchmal genehmige ich mir ein paar Minuten an der frischen Luft, morgens gegen Drei, meine Lieblingsstunde in der Nacht: Wenn der Rest der Welt endlich die Schnauze hält, wie ich zu sagen pflege. Mit etwas Glück und guter Arbeit ist es stabil und ruhig in meinen Zimmern, und ich gehe kurz nach draussen, ziehe tief die Luft ein und lasse mich ein bisschen frieren.
Ich schaue über die Dächer: Eigentlich sind wir doch alle satt und haben den Hintern im Warmen; warum stehen wir alle denn gleich wieder auf, nur um uns durch den schönen Tag zu zicken und zanken? Warum schlagen wir uns, warum schiessen wir auf den Nachbarn, oder schreiben ihm unschöne Dinge ans Garagentor? Warum machen wir nicht einfach unseren Job, besorgen danach dankbar unser Futter, und finden abends schnell wieder zurück aufs Sofa, noch bevor es wieder richtig kalt geworden ist? Ich ertappe mich an manchen Tagen, versunken im Anblick trüber Augen, die mit Sonderangeboten hadern. Denen möchte ich ein Liedchen pfeifen: Let me take you by the hand; ich zeige dir mal einen, oder zwei, oder drei, die wirklich ein Problem haben. Aber nein, das ist ja elitär.
Wer legt das Maß an?
Zwissel mit Eliten sollten eigentlich nur die haben, die nicht dazu gehören; was also ist mein Problem? Die kleine milde Dummheit hinter den Gedanken; das ist menschlich: Wenn du mir deinen Kratzer zeigst, zeig ich dir einen, der hat zwei. Doch deiner wird dadurch nicht heiler. Wer legt das Maß an?
Routine
Ich gehe wieder hinein. Wenn es ruhig bleibt in den Zimmern, steht noch etwas Routine an, Dokumentation, Blutabnahme, solche Sachen. Die Füsse beginnen zu schmerzen und dann weiss ich wieder, wo ich stehe. Und irgendwann liege ich auch wieder in meinem Bett, satt und mit dem Hintern im Warmen. Und irgendwann stehe ich wieder auf. Und beim Rasieren sehe ich im Spiegel unter trüben Augen: Herrje, ein Kratzer. Das Leben ist schön.